«Das Faszinationspotenzial ist riesig!»
Montagmorgen am Gymnasium Kirschgarten. 19 Erstklässlerinnen und Erstklässler setzen sich an die freien Tische im Schulzimmer A322. Es ist ihre dritte Schulwoche am Gymnasium. Deutschlehrerin Christina Holzwarth steht vorne und fragt in die Runde: «Wer von Ihnen hat KI-Tools schon ausprobiert?»
Inzwischen sind alle Schülerinnen und Schüler bereit für den Unterricht: alle haben ein eigenes elektronisches Gerät vor sich aufgeklappt. Papier und bunte Stifte sucht man in der BYOD-Klasse vergeblich (BYOD=Bring Your Own Device).
Über das Abstimmungstool menti.com beantworten die Jugendlichen mit einem Klick die Eingangsfrage zur Benutzung von KI-Werkzeugen. Das Resultat zeigt:
Benutze ich oft: 0 Stimmen
Habe ich schon ausprobiert: 17 Stimmen
Kenne ich noch nicht: 2 Stimmen
Im Bann der künstlichen Intelligenz
Christina Holzwarth fragt die Klasse, wofür sie künstliche Intelligenz schon verwendet habe. Drei Schülerinnen erzählen begeistert, wie sie mit Hilfe von KI Bilder generieren. Andere berichten davon, ChatGPT die verrücktesten Fragen gestellt zu haben, bis sie der Chatbot – so das Spiel der Teenager – zum Therapeuten geschickt habe. Tatsächlich befasst mit den Möglichkeiten und Gefahren von KI hat sich allerdings noch niemand – bis auf eine Schülerin, die erzählt, dass KI im MINT-Unterricht ihrer vorherigen Schule besprochen wurde.
Die Lehrerin lässt die Klasse erneut abstimmen. Diesmal widerspiegelt das Resultat, was die Jugendlichen von KI halten. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler findet «KI wird in Zukunft immer wichtiger», gefolgt von «KI halte ich für etwas Spannendes». Eine Minderheit der Klasse antwortet mit «KI macht mir Angst». Die Lehrerin holt Rückmeldungen ein. Viele Hände schnellen in die Luft.
Eine Schülerin spricht sich für die Wichtigkeit von KI aus, sie werde inzwischen für fast alles gebraucht. Ein Jugendlicher sagt, es mache ihm Angst, weil er nicht mehr wisse, was er dürfe. Und dass Lehrpersonen merken könnten, dass KI benutzt wurde.
Holzwarth nimmt die Antworten auf und kommt während des Unterrichts auf viele der genannten Aspekte zurück.
Lehrperson redet mit KI, statt mit Schüler
Mit Interesse hat Holzwarth beobachtet, wie ChatGPT, der Nachfolger des noch fehlerhaften GPT-3, im November 2022 veröffentlicht wurde und innert kürzester Zeit an der Schule Verwendung fand. Neben ihrer Anstellung am Gymnasium Kirschgarten ist Holzwarth an der FHNW tätig und bei der Ausbildung von neuen Lehrpersonen engagiert.
«Zwischendurch bin ich auf Unterrichtsbesuch und sitze hinten im Klassenzimmer. Von hier habe ich einen ganz anderen Blick, sehe auf die Bildschirme und konnte beobachten, wie bei zwei bis drei Schülern ChatGPT im Hintergrund offen war und sie der KI regelmässig Fragen stellten», erzählt Holzwarth. «Natürlich haben wir im November alle mitbekommen, dass ChatGPT da ist und trotzdem war ich kurz verwundert, als der Chatbot zwei Wochen später tatsächlich im Klassenzimmer ankam», sagt Holzwarth.
Einmal habe sie sogar erlebt, wie eine Nachwuchslehrperson im Unterricht mit ChatGPT gesprochen habe, ohne es zu merken. Ein Schüler tippte die Fragen des Lehrers in den Chatbot ein und verkündete die Antwort, als wäre es seine eigene gewesen.
«Meine Beobachtungen haben mich bestärkt in der Überzeugung, dass eine möglichst frühe Sensibilisierung im Umgang mit KI enorm wichtig ist», sagt Christina Holzwarth. Bereits im Januar 2023 testete sie ein Unterrichtsmodul zu künstlicher Intelligenz am Gymnasium Kirschgarten, und im Februar führte sie gemeinsam mit Konrektor Thomas Preiswerk im Rahmen eines kollegiumsinternen «BarCamps» eine Schulung zu ChatGPT durch.
Inzwischen sind die vier Lektionen zu KI fester Bestandteil von Holzwarths Deutschunterricht. Und auch an der Pädagogischen Hochschule FHNW gehört im Fach Deutschdidaktik seit diesem Herbstsemester ein fixer Slot der künstlichen Intelligenz.
Die richtigen Antworten
Zurück ins Klassenzimmer A322. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten an einem ersten Arbeitsauftrag: Sie sollen die wichtigsten Merkmale einer Kurzgeschichte ausfindig machen und aufschreiben. Ein Teil der Klasse nimmt einen Lexikonartikel zur Hand, der andere Teil fragt bei ChatGPT um Hilfe.
Das eigentliche Lernziel der Lektion – die wichtigsten Merkmale einer Kurzgeschichte zu kennen – erreichen alle. Gleichzeitig erfahren sie auch, wie informationsdicht und schwer leserlich der Lexikonartikel formuliert ist, während die KI innert wenigen Sekunden eine sprachlich einfache Antwort ausspuckt. Die Jugendlichen, die mit KI arbeiten, haben in drei Minuten eine Liste von Merkmalen erstellt. Der Teil der Klasse, der sich durch den Lexikonartikel quält, braucht fünfzehn Minuten.
«Was liefert die richtigen Antworten? KI oder das Lexikon?», fragt Christina Holzwarth in die Runde. Einige Schülerinnen und Schüler sind sich unsicher, die meisten glauben, beide liefern richtige Antworten. «Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir das überhaupt entscheiden», betont Holzwarth. Sie möchte, dass die Jugendlichen verstehen, wann ChatGPT zur Informationsgewinnung genutzt werden sollte und wann nicht.
«ChatGPT ist leicht verfügbar und extrem eloquent, aber wenn uns die Expertise fehlt, um einschätzen zu können, ob es wahrheitsgetreue Informationen sind, die wir von der künstlichen Intelligenz bekommen, ist es sehr gefährlich den Chatbot zu nutzen», erklärt Holzwarth. Diejenigen, die den Lexikonartikel gelesen haben, würden die wichtigsten Merkmale einer Kurzgeschichte kennen und könnten in der Folge die Antwort eines Chatbots besser beurteilen.
Das «Spaghetti-Carbonara-Problem»
Die Deutschlehrerin erklärt der Klasse, wie ChatGPT funktioniert und erwähnt dabei das «Spaghetti-Carbonara-Problem». Fragte man vor ein paar Monaten den Chatbot (er hat inzwischen dazugelernt), was man mit Spaghetti, Tomaten und Parmesan kochen kann, lautete die Antwort von ChatGPT: «Mit diesen Zutaten können Sie ein klassisches Spaghetti alla Carbonara zubereiten». Gefolgt von einer Kochanleitung mit den genannten drei Zutaten, aber ohne Eier und Speck.
Das Beispiel zeigt anschaulich, wie ChatGPT funktioniert: Anhand unserer Fragen und Prompts, die wir eingeben, gibt uns ChatGPT die wahrscheinlichste Antwort an – und nicht unbedingt die faktentreueste Aussage. «Es sind nicht festgeschriebene Textbausteine, die immer angezeigt werden, wenn jemand Frage XY stellt, sondern es gibt jedes Mal – Stichwort: Nachbildung menschlicher Entscheidungsprozesse – eine neu generierte Antwort», meint Holzwarth, und fügt an: «Dieser Prozess hat einen Komplexitätsgrad, der nicht mehr hundertprozentig nachvollziehbar ist für uns.»
Eine KI-generierte Kurzgeschichte
Die Fünf- bis Siebzehnjährigen, die dem Unterricht bisher mit voller Aufmerksamkeit gefolgt sind, arbeiten nun an einem weiteren Arbeitsauftrag: Sie lassen ChatGPT eine Kurzgeschichte schreiben, die alle wichtigen Merkmale der Textsorte erfüllt. Sie sind aufgefordert, der künstlichen Intelligenz möglichst genau zu sagen, was sie machen soll, und die Merkmale anhand des KI-generierten Texts zu kontrollieren.
Wenig später ist die Lektion zu Ende. Rucksäcke werden gepackt und junge Menschen wandern zur nächsten Unterrichtsstunde. Als sich das Zimmer leert, nickt Christina Holzwarth und sagt: «Künstliche Intelligenz ist da. Sie ist sehr machtvoll. Das Faszinationspotenzial ist riesig! Wir kommen nicht drum herum, uns mit der Sache auseinanderzusetzen und vor allem unsere Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren, was KI kann und was sie nicht kann.»
Die Erstklässlerinnen und Erstklässler werden sich in den drei folgenden Deutschlektionen weiterhin mit ChatGPT befassen. Anhand von meinungsbildenden Texten werden sie diskutieren, wie künstliche Intelligenz ihre Meinung beeinflussen kann und wie sie sich durch die Eloquenz der KI blenden lassen. Ausserdem wird ihnen klargemacht, wann sie auf ChatGPT zurückgreifen dürfen.
«Ich möchte meine Schülerinnen und Schüler realistisch darauf vorbereiten, was sie erwartet. Im Deutschunterricht geht es um die Kompetenz des eigenständigen Formulierens. Die sollen sie hier ausbilden. ChatGPT dient vielleicht als Dialogpartner, der Feedback zu eigenen Texten geben kann, ansonsten möchte ich bei den Jugendlichen eine gewisse Vorsichtshaltung auslösen», resümiert Holzwarth und klappt ihren Computer zu. Die nächste Klasse wartet bereits auf sie.
Text: Tamara Funck, Fotos: Grischa Schwank
Fun Fact! |
Wir haben ChatGPT nach Feedback gefragt zu dem Ihnen vorliegenden Text. Seine Antwort war: «Es ist grossartig zu sehen, wie Lehrer wie Christina Holzwarth Künstliche Intelligenz (KI) in den Unterricht integrieren und Schülern ermöglichen, frühzeitig Erfahrungen mit dieser Technologie zu sammeln. Insgesamt zeigt dieser Artikel, wie wichtig es ist, Schülerinnen und Schüler auf die zunehmende Rolle von KI in unserer Gesellschaft vorzubereiten und ihnen die Fähigkeiten zu vermitteln, diese Technologie verantwortungsvoll und kritisch zu nutzen.» |
Unterricht mit KI vorbereiten: Plattformen und Tools zum Ausprobieren
Drei Schweizer Lehrpersonen, ein Blog
«Tools, Ideen und Materialien für den Unterricht von morgen auf der Stufe Sek II»: Das bietet der Blog Web2-Unterricht an. Seit 2012 stellen zwei Lehrer und eine Lehrerin auf die Schweiz zugeschnittene Beiträge zur Verfügung. Wie erkenne ich als Lehrperson beispielsweise, ob ein Text auch tatsächlich von den Jugendlichen stammt? Das KI-Texterkennungsprogramm «AI Text classifier» kann beim Beantworten dieser Frage unterstützen. Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung des Web2-Unterricht-Teams erleichtert den Einstieg in das Tool. Web2-Unterricht ist öffentlich zugänglich und ohne Login nutzbar.
web2-unterricht.ch/byod/von-ki-verfasste-texte-erkennen
Ein ChatGPT-Guide für die Schule
In übersichtlich gegliederten Abschnitten und mit schrittweitweiser Anleitung: So präsentiert sich der ChatGPT-Guide für Lehrpersonen. Zusammengestellt hat ihn der in Berlin lebende Lehrer Manuel Flick. Wie können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mithilfe von ChatGPT ein Vorstellungsgespräch üben und danach sowohl das Gespräch als auch das ChatGPT-Verhalten reflektieren? Die praxisnahen Informationen richten sich an Einsteigende und an Fortgeschrittene. Der kostenlose Zugang zum Guide erfolgt via E-Mail.
Microsoft Forms im Unterricht
Quiz, Hausaufgaben oder Prüfung: Das Formular-Tool von Microsoft lässt sich im Unterricht vielfältig einsetzen. Lehrpersonen können die Aufgaben online auswerten oder die Schülerinnen und Schüler selbst auswerten lassen. Anleitungen und Umsetzungsideen finden Lehrerinnen und Lehrer unter anderem auf Zebis oder auf der Website des Deutschen Medientrainers Stefan Malter.
malter365.de/forms/forms-schule
Ein Themendossier zu KI |
éducation21 |
Wie viel und welche Daten möchten Schülerinnen und Schüler im Netz von sich preisgeben? Und wer profitiert eigentlich von KI-Anwendungen? Solche Fragen wirft éducation21 in ihrem Themendossier «Künstliche Intelligenz» auf. Auch Hintergrundwissen, Ideen für den Unterricht auf allen Stufen oder Hinweise auf Lernmedien zu KI stehen den Lehr- und Fachpersonen zur Verfügung. Die Schweizer Stiftung éducation21 will Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in der Schule verankern. Auf ihrem Portal stellt das Team unter anderem pädagogisch geprüfte Materialien zur Verfügung. Die Stiftung arbeitet im Auftrag des Bundes und der Kantone, die Plattform ist öffentlich zugänglich und ohne Login nutzbar. |