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Die Chancen der frühen Förderung

17.05.2024
Von Logopädie über Heilpädagogik bis Sozialarbeit: Die frühe Förderung trägt zu einer Erhöhung von gerechten Bildungschancen bei. In Basel arbeiten 35 Personen am Zentrum für Frühförderung, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen in ihrer Entwicklung zu fördern. In Bezug auf gleiche Bildungschancen für alle bleibt die Freiwilligkeit der Angebote eine Herausforderung.
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Logopädin Caroline Hoenen unterstützt ein Mädchen spielerisch bei seiner Sprachentwicklung.

Versteckt, unscheinbar, am Rande des De-Wette-Parks: Hier liegt das Zentrum für Frühförderung (ZFF) in Basel. Das alte Stadthaus mit grosszügigem Treppenhaus ist wunderschön, aber inzwischen zu klein geworden. Die Besucherzahlen des Kompetenzzentrums für den Frühbereich im Kanton Basel-Stadt sind in den letzten Jahren gestiegen. Das ZFF sieht seine Aufgabe darin, Babys und Kleinkinder mit Förderbedarf im Alter von null bis vier Jahren frühzeitig zu unterstützen und in ihrer Entwicklung zu fördern. Denn: je früher gefördert wird, desto besser. Ergebnisse aus kantonalen Studien belegen, dass sich deutliche Kompetenzunterscheide bereits beim Schuleintritt zeigen und sich im Laufe der Schulzeit fortsetzen.

 «Unser Ziel für die Kinder ist immer die grösstmögliche Teilhabe an ihrem Leben, an der Gesellschaft und auch im schulischen Kontext», sagt Zentrumsleiterin Noortje Vriends. Sie verstehe Chancengerechtigkeit als ihr übergeordnetes Ziel. Leider gebe es jedoch immer wieder Kinder, die am ersten Kindergartentag ankommen und grosse Lücken in ihrer Entwicklung aufweisen. Kindergartenlehrpersonen schütteln dann ihre Köpfe und fragen sich: Warum ist nichts passiert in den ersten vier Jahren? Warum hat dieses Kind keine Frühförderung bekommen?

Kleine Dunkelziffer

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Noortje Vriends leitet das Zentrum für Frühförderung in Basel.

Bereits ab Geburt besteht das Risiko, dass familiäre Belastungsfaktoren wie zum Beispiel Armut, enge Wohnverhältnisse und psychisches Leiden der Eltern die Entwicklung eines Kindes tangieren. Deshalb richtet sich das Angebot des ZFF nicht ausschliesslich an Kinder mit einer Entwicklungsverzögerung, sondern auch an Eltern, um sie in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken und in vorausschauender Weise einer ungünstigen Entwicklung der Säuglinge und Kleinkinder vorzubeugen.

Leiterin Noortje Vriends weiss, dass wenn die betroffenen Kinder und Familien beim Zentrum für Frühförderung ein und aus gehen oder einem Hausbesuchsprogramm zustimmen, Fortschritte spürbar sein werden – dank einem interprofessionellen Team mit Fachpersonen von Logopädie, Heilpädagogik, Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik. Allerdings gebe es eine kleine Dunkelziffer von Kindern, die in Risikoverhältnissen aufwachsen und im Frühbereich nicht gesehen werden. «Der Kanton Basel-Stadt hat sehr viele tolle Angebote, die viel in Anspruch genommen werden. Auch wir am ZFF haben viel Zulauf. Trotzdem gibt es Familien, die keine Hilfe und Beratung annehmen können oder wollen.»

Noortje Vriends vermutet, in manchen Fällen habe die Zurückweisung mit Angst zu tun. Es bestehe zwar ein Interesse, Förderangebote in Anspruch zu nehmen ­­– denn jeder Elternteil möchte das Beste für sein Kind –, doch überwiege eine Angst, dass jemand sehen könnte, wie schwierig die Situation in der Familie ist.

Die Relevanz der ersten Jahre

Die frühe Förderung wird als Grundlage für ausgewogenere Startchancen auf dem Weg des Lernens verstanden, da während der ersten Lebensjahre bedeutsame Entwicklungen im Bereich von sozialer, emotionaler, kognitiver, sprachlicher und motorischer Entwicklung stattfinden. Die Förderung in frühen Jahren birgt für das Kind die Chance, seine Bildungspotenziale optimaler zu entfalten.

«Wir sprechen von ‹Fenster›, die auf- und wieder zugehen», sagt Noortje Vriends. In den ersten paar Jahren wolle das Gehirn einfach lernen. «Wenn ein Kind hören kann, aber wenig Reize geboten bekommt, weil die Eltern nicht wissen, dass sie mit ihrem Kind reden sollen und weil sie nicht wissen, dass sie auch schwierige Wörter verwenden dürfen, um das Gehirn anzuregen – irgendwann geht das Fenster zu. Das ist wie eine verpasste Chance.»

Dies erkläre auch, weshalb Armut zu einer Entwicklungsverzögerung beitragen kann. Eine reizarme Umgebung entstehe zum Beispiel, weil es Eltern aufgrund von Mangel, Verzicht, sozialer Isolation und finanziellen Nöten nicht gelingt, die Entwicklung ihres Kindes zu fördern oder mit ihrem Kind Zeit zu verbringen.

«Was ist eine Znünibox?»

Die Mitarbeitenden des ZFF unterstützen Familien auch im Spiel. Das Programm schritt:weise zum Beispiel richtet sich an Eltern und ihre Kleinkinder im Alter von zwei Jahren. Während 18 Monaten werden die Familien regelmässig von einer Fachperson im Frühbereich zu Hause besucht, die Spielmaterial mitbringt und mit dem Kind spielt. Dabei zeigt sie den Familien, wie das Kind durch das Spiel in seiner gesamten Entwicklung unterstützt und gefördert werden kann.

Das Hausbesuchsprogramm PAT (Parents as Teachers) setzt noch früher an: Es richtet sich an werdende Eltern ab der 20. Schwangerschaftswoche und an Eltern mit einem Säugling bis maximal zwölf Monate. Auch hier finden regelmässige Hausbesuche statt. Bei gemeinsamen Aktivitäten erhalten die Eltern Ideen, wie sie mit ihrem Kind spielen und dabei eine sichere Bindung aufbauen. Denn eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind ist eine Voraussetzung für das Lernen.

Des Weiteren organisiert das ZFF die Frauenrunde femmesTISCHE. Dabei suchen Moderatorinnen verschiedener Nationalitäten Gastgeberinnen, die Freundinnen zu einer Gesprächsrunde einladen. «Bei femmesTISCHE bereiten wir Mütter zum Beispiel auf den ersten Kindergartentag vor», erzählt Noortje Vriends. Es werden Fragen geklärt wie: Was ist eine Znünibox? Was ist ein Leuchtstreifen? Geht man wirklich in den Wald mit den Kindern? «Wenn Eltern da informiert sind, ist es ein ganz anderer Start in die Volksschule», betont Noortje Vriends.

Die Angebote des ZFF werden rege genutzt. Sie sind für im Kanton Basel-Stadt wohnhafte Familien kostenlos und gehen über Sozialarbeit, Logopädie, heilpädagogische Früherziehung, Psychologie und frühe Deutschförderung hinaus: Sie bringen Eltern zusammen, die sich in Gruppentreffen zu Erziehungsfragen austauschen können, sie verweisen auf Angebote im Quartier und bei fremdsprachigen Eltern versuchen sie einer möglichen Isolation in einem ihnen fremden Land entgegenzuwirken.

Im Spannungsfeld

Eine grosse Herausforderung in Bezug auf die frühe Förderung und die Chancengerechtigkeit bleibt der freiwillige Bereich, in dem sich die frühe Förderung bewegt. Bis auf das Obligatorium der frühen Deutschförderung für Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen sind Förderstunden, Hilfe und Beratung des ZFF freiwillig. Auch die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen oder die Elternberatung sind freiwillig. Wie gerecht dies bei unmündigen Kindern ist – darüber lässt sich streiten.

Noortje Vriends kennt die Problematik. Allerdings bringe es nichts, eine Familie zur Förderung zu verpflichten, sagt sie. «Ich stehe für Motivationsarbeit. Die Freiwilligkeit wird bleiben und sie setzt voraus, dass Eltern und Fachpersonen gut über die Angebote der Frühförderung informiert sind», unterstreicht Vriends. Alle Familien – besonders aber isolierte Familien – mit Informationen zu erreichen, bleibe allerdings eine schwierige Aufgabe.

Text: Tamara Funck, Fotos: Grischa Schwank

Ausbau der frühen Deutschförderung

Der Kanton Basel-Stadt ist seit 2013 Pionierkanton bei der frühen obligatorischen Deutschförderung. Eine Studie der Universität Basel aus dem Jahr 2014 hat gezeigt, dass der Besuch eines Förderangebots an zwei halben Tagen pro Woche die Deutschkenntnisse signifikant verbessern würde. Der Rückstand zu gleichaltrigen Kindern mit Deutsch als Erstsprache kann jedoch nicht aufgeholt werden.

Ab dem Schuljahr 2024/2025 wird das Angebot weiter ausgebaut. Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen vor dem Kindergarteneintritt besuchen entweder an zwei Tagen eine Kita (wie gehabt) oder an drei Halbtagen eine Spielgruppe (bisher waren es zwei Halbtage). Dies hat der Grosse Rat Mitte Dezember 2023 entschieden.

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