«Ich sehe grossen Handlungsbedarf»
Basler Schulblatt: Markus Neuenschwander, was für ein Zeugnis stellen Sie dem Schweizer Bildungssystem in Bezug auf Chancengerechtigkeit aus?
Markus Neuenschwander: Schauen wir die PISA-Erhebung an, zeigen die Ergebnisse der letzten Jahre, dass der Herkunftseffekt auf die Leistungen am Ende der Schulzeit in der Schweiz besonders stark ist. Das heisst, die soziale Herkunft beeinflusst in der Schweiz die Leistung stärker als zum Beispiel in den USA oder in Skandinavien. Wenn wir sagen, es ist ungerecht, wenn die soziale Herkunft die Leistung mitbestimmt, ist es ein ungünstiges Zeugnis. Ich sehe grossen Handlungsbedarf in der Schweiz.
Warum ist in der Schweiz der Herkunftseffekt auf die Schulleistungen so ausgeprägt?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. In vielen Kantonen der Schweiz haben wir auf Sek-I-Stufe verschiedene Bildungsniveaus. Die soziale Herkunft beeinflusst den Entscheid fürs jeweilige Niveau und da der Leistungszuwachs je nach Niveau unterschiedlich gross ist, kumulieren sich die Herkunftseffekte. Das ist ein Grund.
Ausserdem haben wir in manchen Kantonen Übertrittsverfahren, die zu wenig leistungsorientiert sind. Das heisst, die Entscheidung bezüglich des Bildungsniveaus wird nicht auf der Basis der Leistung des Kindes gefällt, sondern vor allem aufgrund der Wünsche der Eltern. Eltern mit einem höheren Status wollen typischerweise, dass ihr Kind in ein Schulniveau mit hohen Anforderungen eingeteilt wird. Sie setzen sich meist durch. Daher haben wir in den Kantonen, in denen die Elternmitwirkung im Übertrittverfahren ausgeprägt ist, stärkere Herkunftseffekte. Das ist ungerecht. Nicht die Geburt, sondern die Leistung soll über den Schulerfolg der Kinder entscheiden.
Und ein weiterer Grund: Das Schweizer Bildungssystem ist zwar formal durchlässig, aber die Möglichkeit des Aufstiegs wird von vielen Jugendlichen nicht wahrgenommen. Fakt ist, formale Durchlässigkeit führt alleine nicht dazu, dass alle Jugendlichen die Durchlässigkeit tatsächlich nutzen. Jugendliche mit Eltern, die einen hohen Status innehaben, nutzen einen Aufstiegskanal eher. Das verstärkt die Chancenungleichheit.
Die Übertrittsverfahren sind kritische Momente in der Schullaufbahn eines Menschen. Was würde sie gerechter machen?
Für mich meint Chancengleichheit – wie das Wort es sagt – gleiche Chancen im Wettbewerb, im Selektionsverfahren. Im Schweizer Bildungssystem haben wir viele solche Selektionsverfahren: zum Beispiel beim Übertritt vom Kindergarten in die Primarschule, beim Übertritt in die Sek I oder die Sek II, Sonderschulzuweisungen, Klassenwiederholungen oder Lehrabschlussprüfungen. Gerecht wäre, wenn alleine die Leistung und die Motivation eines Kindes den Ausschlag geben würden über die Bildungschancen, die ein Kind bekommt.
Und das ist im Moment nicht der Fall?
Teilweise schon, aber in zu geringem Ausmass. Es gibt wesentliche Variablen, die den Selektionsentscheid zusätzlich beeinflussen.
Das müssen Sie erklären.
Ich meine hier vor allem drei Variablen: soziale Herkunft, kulturelle Herkunft und Geschlecht. Soziale Herkunft beinhaltet Einkommen, Bildungsniveau und beruflichen Status der Eltern. Kulturelle Herkunft meint Nationalität, Geburtsland, d.h. einen möglichen Migrationshintergrund. Und schliesslich das Geschlecht.
Welcher der Nebeneffekte ist am grössten?
Der Effekt der sozialen Herkunft ist der stärkste Effekt in Bezug auf die Leistung, aber auch in Bezug auf Bildungsabschlüsse. Kinder haben unterschiedliche Ressourcen, finanziell gesehen, aber auch bezüglich der Anregungsqualität in der Familie. Sie zeigen sich zum Beispiel in Sprachverhalten und kognitiven Anregungen zu Hause.
Dazu kommt, dass Eltern mit einem höheren sozialen Status höhere Aspirationen an ihre Kinder richten. Wenn es ihnen zum Beispiel wichtig ist, dass ihr Kind zu einem akademischen Abschluss kommt, werden sie sich auch eher zugunsten ihrer Kinder einbringen bei den Lehrpersonen. Sie werden ihr Kind eher unterstützen bei Hausaufgaben und es fördern, zum Beispiel mit Nachhilfestunden.
Eltern aus der Mittelschicht vertreten Werte, die den Werten der Schule eher entsprechen. Kinder aus bildungsferneren Familien haben eine grössere Differenz zwischen dem, was sie in der Schule erleben, und dem, was sie daheim kennen.
Welche Rolle spielt Nationalität in Bezug auf Bildungschancen?
Wir wissen, dass gewisse Menschen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem benachteiligt sind. Wir konnten das in einer neueren Studie zu Stereotypen über Nationalitäten präzisieren, die wir im März publizierten. Die Studie zeigt, dass gewisse Gruppen aufgrund ihrer Nationalität benachteiligt sind und andere nicht. Benachteiligt sind vor allem Kinder und Jugendliche aus osteuropäischen Ländern (z.B. Serbien, Tschechien, Polen u.a.), China, der Türkei und Russland. Sie werden unabhängig von ihren Leistungen als kompetenter und kälter wahrgenommen. Kinder aus Staaten mit hohem Wohlstand (z.B. USA, Japan, Frankreich, Spanien, Deutschland), die in die Schweiz einreisen, sind laut unserer Studie im Bildungssystem nicht benachteiligt. Sie werden gemäss den Stereotypen als wärmer und kompetenter wahrgenommen.
Die Benachteiligung einzelner Gruppen hängt stark mit dem Wohlwollen zusammen, das man dem jeweiligen Land entgegenbringt. Das Wohlwollen scheint wichtiger zu sein als die Kompetenzeinschätzungen über Nationalitäten. Ablehnung oder fehlendes Wohlwollen führen zu ungünstigeren Leistungsbeurteilungen bei gleichen Leistungen und somit zu Benachteiligung.
Inwiefern bekommen Mädchen und Buben nicht die gleichen Chancen in der Bildung?
Es kommt immer darauf an, von welchen Situationen wir sprechen. Bei gleichen Leistungen werden Mädchen zum Beispiel beim Übertrittsverfahren in die Sek I bevorzugt. Auch beim Übertrittsverfahren in das Gymnasium sind Mädchen klar bevorzugt.
Benachteiligung zeigt sich auch, wenn es darum geht, Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen: Buben werden viel eher als verhaltensauffällig diagnostiziert als Mädchen. Sie sind daher häufiger von Schulausschluss und Drop-Out betroffen als Mädchen.
In Bezug auf Beurteilungen in Mathematik sind die Mädchen ein bisschen benachteiligt – wobei die Effekte in den letzten Jahren nicht mehr signifikant waren, das hat sich verändert. In Bezug auf Beurteilungen in Deutsch sind die Buben benachteiligt.
Buben kommen in der Schule also grundsätzlich schlechter weg als Mädchen?
Ich habe den Eindruck, dass im Schweizer Bildungssystem im Jahr 2024 Buben recht konsequent benachteiligt sind. Ich meine diese Aussage nicht ideologisch, sondern sie beschreibt bildungsstatistische Fakten.
In der Wirtschaft findet sich dieser Trend weniger ausgeprägt. So verdienen Frauen im Durchschnitt in manchen Betrieben nach wie vor weniger als Männer – was natürlich stossend ist. In der Schule finden sich aber deutliche und systematische Nachteile für die Buben.
Ist das Bildungssystem nicht für Buben gemacht?
So würde ich das nicht sagen. Es gibt gewisse Verhaltensnormen, die in der aktuellen Schule gelten und die Mädchen scheinbar besser erfüllen können. Zum Beispiel Verhaltenserwartungen. Buben sind vielleicht impulsiver, sie probieren eher aus und fühlen sich dadurch schneller gelangweilt im Unterricht. Sie missachten deshalb eher Regeln. Dafür werden sie bestraft, weil das nicht akzeptiert wird. Mädchen haben da weniger Schwierigkeiten. Sie probieren auch aus, aber das ist eher in Übereinstimmung mit den Normen der Schule.
Mädchen lernen im Durchschnitt ausdauernder, motivierter als Buben. Das hilft ihnen, in der Schule erfolgreicher zu sein. Auch spielen Gruppenarbeiten und andere Formen der Zusammenarbeit in der Schule eine Rolle – und da, im Sozialen, sind Mädchen tendenziell stärker. Natürlich sind das nur Tendenzen. Es gibt grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern.
Was kann eine Lehr- oder Fachperson tun, um Chancengerechtigkeit im Schulalltag zu steigern?
Lehr- und Fachpersonen beeinflussen mit ihren stereotypen Erwartungen und Zuschreibungen für schulische Erfolge die Leistungen und das Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Wir wissen, dass es systematische Beurteilungsverzerrungen aufgrund von Stereotypen gibt. Die treten nicht absichtlich auf, alle Menschen sind davon betroffen, aber sie sind wirksam.
An der PH FHNW haben mein Team und ich daher SCALA, eine Weiterbildung für Lehrpersonen, entwickelt. Die Weiterbildung vermittelt konkrete Hinweise, wie jemand gerechte Rückmeldungen geben kann. Mit Rückmeldungen meine ich die formative Beurteilung – also die Art, wie ich im Unterricht Rückmeldungen gebe. Das kann jemand förderlich machen oder auch nicht. Wenn wir allen Kindern gleich förderliche Rückmeldungen geben, können wir die Chancengleichheit verbessern.
Was sind förderliche Rückmeldungen und wie kann man sie geben?
Bei Misserfolgen sind Rückmeldungen förderlich, wenn sie external variabel erklärt werden. Bei einem Misserfolg etwa kann man sagen: «Ja, das war eine schwierige Aufgabe, das kannst du noch besser.» Bei Erfolgen sind Rückmeldungen förderlich, wenn sie internal stabil erklärt werden, zum Beispiel «du bist eben gut in Mathe». Entscheidend ist also die Art, wie eine Lehrperson Erfolge und Misserfolge erklärt. Diese Erklärung beeinflusst die Motivation und das Selbstvertrauen eines Kindes und das hat wiederum einen Effekt auf die weiteren Leistungen. Als Lehr- oder Fachperson kann ich lernen und üben, wie ich Rückmeldungen formuliere, um Kinder besser zu fördern.
Es geht Ihnen aber nicht nur um die Rückmeldungen im Unterricht, nicht wahr?
Genau. Beurteilungen erfolgen auch mit Noten und Prognosen. Die prognostische Beurteilung spielt eine wichtige Rolle beim Übertrittsverfahren.
Worauf sollte eine Lehrperson dabei besonders achten?
Eine wichtige Frage ist: Stelle ich bei meiner Übertrittsempfehlung das Kind ins Zentrum, seine Leistungen und seine Motivation? Das Kind soll den Ausschlag geben für die Übertrittsempfehlung, nicht die Wünsche oder die Förderung der Eltern. Es ist ungerecht, wenn ich denke, das Kind ist zwar von den Leistungen her knapp für das Gymnasium, aber die Eltern helfen ja und darum wird es das schon schaffen. Ein Kind aus einer bildungsferneren Familie, das vielleicht sogar noch die besseren Leistungen hat, geht dann nicht ans Gymnasium, weil ich als Lehrperson denke, das bekommt ja keine Hilfe. Entsprechend zeigen unsere Daten, dass Kinder aus bildungsferneren Familien deutlich bessere Leistungen erbringen müssen für eine Gymnasiumempfehlung als Kinder aus bildungsnahen Familien. Lehrpersonen können steuern, wie sie Laufbahnentscheidungen von Kindern fällen und begründen.
Kann Bildung überhaupt chancengleich sein oder müssen wir akzeptieren, dass es ein unerreichbares Ziel bleiben wird?
Wir können Chancengleichheit in höherem oder tieferem Ausmass realisieren. Wir wissen, wie wir vorgehen müssen, wenn wir ein gerechteres Bildungssystem wollen. Die Frage ist, ob wir das wollen. Und: Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht alle gleich sind. Das ist Vielfalt. Nur wenn Menschen verschieden sind, gibt es überhaupt die Möglichkeit zur Selektion.
Nebenbei ist Selektion kein Kernauftrag von Schule. Das heisst, Schule hat den primären Auftrag, Bildung zu vermitteln. Ich kann mir aber Schulen mit einem deutlich modifizierten Selektionsauftrag gut vorstellen. Interessante Beispiele dazu finden wir in den skandinavischen Ländern wie Finnland und Schweden. Dort erreichen Schülerinnen und Schüler hohe Kompetenzen und Leistungen, ohne dass in verschiedene Schulniveaus selegiert wird. Bei einer anders gedachten Selektion könnten wir die Herausforderungen der Chancengerechtigkeit gut lösen. Entscheidend ist, ob und zu welchem Zeitpunkt die Selektion fair stattfindet.
Text: Tamara Funck
SCALA-Weiterbildung |
Ziel des SCALA-Ansatzes ist es, die Überzeugungen der Lehrpersonen gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern lernförderlich und sozial fair zu verändern. Dazu gehören insbesondere die fachspezifischen Leistungserwartungen und Zuschreibungen der Lehrpersonen. Diese neue schulinterne Weiterbildung wird Schulen angeboten: www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/paedagogik/institut-forschung-und-entwicklung/zentrum-lernen-und-sozialisation/scala-bildungschancen-in-sozial-heterogenen-schulklassen-foerdern |
Zur Person |
Prof. Dr. Markus Neuenschwander ist seit 2013 Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule FHNW (www.fhnw.ch/ph/zls). Er leitet mehrere Projekte zum Thema Chancengerechtigkeit, unter anderem die Studie «Wirkungen der Selektion» (WiSel), die die Bildungsverläufe von der Primarstufe bis fünf Jahre nach Austritt aus der Sekundarstufe I analysiert, und das Projekt «TRAIL», das die individuellen und kontextuellen Erfolgsfaktoren, welche die Chancen im Lehrstellenmarkt beeinflussen, erforscht. |