Noten und Checks sind wichtig, aber Schule ist mehr
Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken? Vielleicht an prägende Lehrerinnen und Lehrer, an die Sitzordnung und den Blick aus dem Fenster. Oder sogar an einzelne Prüfungen. Bei mir besonders stark sind die Erinnerungen an die gemeinsamen Erlebnisse: die Skilager mit anderen Klassen, den Sporttag, als ich beim Staffellauf den Stab fallen liess, und unser Schultheater mit den vielen Proben und dem Lampenfieber.
Diese gemeinschaftlichen Schulerlebnisse waren prägend für mich. Das Erleben von Gemeinschaft gehört ebenso zur Schule wie das Vermitteln von Wissen. Schulklassen sind Schicksalsgemeinschaften, in denen sich die Kinder und Jugendlichen aufgehoben fühlen sollen und wo sie lernen, Freundschaften zu pflegen und Konflikte zu lösen.
Hinter Noten stehen Individuen mit unterschiedlichen Rucksäcken
Anders als Kenntnisse in Deutsch, Mathematik oder Fremdsprachen lassen sich soziale Kompetenzen nicht einfach messen. Diese Problematik geht über die Schule hinaus. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen plädiert dafür, die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistung eines Landes breiter zu denken und auch schwierig messbare Aspekte wie den Umgang einer Gesellschaft mit Bildung oder mit Minderheiten miteinzubeziehen. Auf die Schulen übertragen hiesse das für mich: Noten, Checks oder ÜGK-Ergebnisse (Überprüfung der Grundkompetenzen) sind wichtig, aber sie bilden nur einen Teil ab. Hinter den leicht messbaren Fertigkeiten stehen Individuen, die mit ihren ganz unterschiedlichen Rucksäcken eine Klassen- und Schulgemeinschaft bilden. Das wissen Sie, liebe Lehr- und Fachpersonen, nur allzu gut. Tag für Tag fördern und begleiten Sie junge Menschen. Und weil Sie Ihre Schülerinnen und Schüler gut kennen, beziehen Sie all das, was sie mitbringen – Stärken und Schwächen, familiäre Kontexte oder gesundheitliche Aspekte – in die individuelle Förderung mit ein.
Beim Googeln Fake News erkennen
Schule kommt nicht umhin, vermittelte Kompetenzen auch zu messen (vgl. Gespräch mit Volksschulleiter Urs Bucher). Für ebenso wichtig wie das Vermitteln und Prüfen von Wissen halte ich aber das Reflektieren und Einordnen des Gelernten. Welchen Wert hat das mühelose Bedienen digitaler Medien, wenn ich Medieninhalte nicht kritisch reflektieren und einordnen kann? Eine gute Schule vermittelt nicht nur Wissen, sondern auch die Kompetenz, das Gelernte sinnvoll anzuwenden und in einen Kontext zu stellen – um beim Googeln zum Beispiel Fake News erkennen zu können. In einer guten Schule üben Schülerinnen und Schüler auch das Zusammenleben in einer heterogenen Gemeinschaft. Und sie eignen sich musische Fertigkeiten an. Der Erwerb solcher Kompetenzen ist ein wesentlicher Bestandteil einer schulischen Laufbahn, auch wenn er sich nicht so einfach messen lässt wie die Herleitung eines mathematischen Ergebnisses.
Hohe Ansprüche an die Schule
Ebenfalls nicht einfach messbar, aber sehr wohl beobachtbar ist der Umgang der Schule mit den unterschiedlichsten Ansprüchen, die an sie gestellt werden. Auch das wissen Sie aus Ihrem Berufsalltag nur allzu gut. Wer aber hinschaut, sieht sofort, was Sie Tag für Tag mit Professionalität und Fingerspitzengefühl tun: Sie sorgen für ein Gleichgewicht zwischen der bestmöglichen Förderung eines Kindes und seinem Potenzial. Sie beobachten und beurteilen neben den Leistungen der Schülerinnen und Schüler deren Verhalten und Möglichkeiten und gewährleisten, auch im Gespräch mit den Eltern, Transparenz. Und Sie begleiten Jugendliche, die sich zwischen den Erwartungen von Familie, Wirtschaft, Gesellschaft und eigenen beruflichen Zielen bewegen. Das sind hohe Ansprüche an Sie und an die Schule. Aber sie gehören ebenso zu einer guten Schule wie das Vermitteln und Anwenden von Wissen oder das Messen von Leistungen. Bei meinen Schulbesuchen beeindruckt es mich jedes Mal, wie umfassend Sie Schule verstehen und leben.
Ausflüge fehlen
Zurück zu den Skilagern, den Sporttagen und den Schultheatern: Dieser Teil von Schule ist im Moment aufgrund der Pandemiesituation nur eingeschränkt möglich. Das bedaure ich sehr, gerade auch weil ich um die Bedeutung von Gemeinschaftserlebnissen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weiss. Ihnen, den Schülerinnen und Schülern und uns allen wünsche ich eine baldige Rückkehr zu einem Alltag ohne «Social Distancing» und mit den gemeinschaftlichen Unternehmungen, die zum Reichtum und zur Qualität der Schule ganz wesentlich beitragen.
Conradin Cramer, Vorsteher des Erziehungsdepartements
Foto: Marcel Scheible