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Struktur im Provisorium

13.01.2025
In den provisorischen Schulmodulen auf dem Erlenmattplatz knüpfen Primarschulkinder, die neu in Basel sind, über den Deutschunterricht erste Beziehungen.
Schülerinnen und Schüler samt Lehrpersonen sitzen im Kreis
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Frauke Schmidt, Luce Pieters und Vinothini Velupillai (v.l.) unterrichten in einer altersdurchmischten Klasse.

«Wie geht es dir heute?» Das ist die Kernfrage, die jeden Morgen durch den schlichten hellen Schulraum in der Klasse von Frauke Schmidt und Luce Pieters hallt. Jedes Kind beantwortet sie jeden Tag für sich wieder neu. Fühlt sich eins schlecht, holt Frauke Schmidt als erstes das Fieberthermometer hervor: «Es ist sehr wichtig, dass wir genau zuhören und dann auch handeln. Die Kinder sollen vom ersten Moment an wissen, dass da Lehrkräfte sind, die sich interessieren und sich kümmern», erklärt die erfahrene Lehrperson für Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Und Vinothini Velupillai, die Sozialpädagogin, die mit Frauke Schmidt vor einem Jahr die DaZ-Klasse an der Primarstufe Erlenmatt aufgebaut hat, ergänzt: «Beziehungsarbeit ist unsere Kernaufgabe hier. Wir müssen individuell schauen, aus welcher Lebenssituation ein Kind kommt. Und den Unterrichtsstoff anpassen.» So kann etwa die korrekte Benutzung der hier üblichen Toiletten ebenso Teil des Unterrichts sein wie die Dynamik innerhalb der Gruppe, Fragen zur Monatshygiene oder ein Ausflug zu den Eseln in die Lange Erlen.

Die Biografien der Kinder in der altersdurchmischten Klasse sind bewegt. Viele der Schülerinnen und Schüler haben Erfahrungen von Krieg und Flucht hinter sich. Zum Teil waren sie mit ihren Familien jahrelang unterwegs und bringen wenig oder gar keine Unterrichtserfahrung mit. «Wir geben den Kindern klare Aufträge. Erfahrungsgemäss sind sie sehr motiviert. Sie wollen arbeiten, machen das gerne», beobachtet Luce Pieters, die seit April mit Frauke Schmidt die Klasse führt. Das bestätigt sich bei einem kurzen Besuch im Klassenzimmer. Die sieben anwesenden Kinder nehmen mit sehr viel Engagement und Freude Teil an den spielerischen Übungen zu Nomen aus dem Schulalltag. Sie ordnen Kärtchen Gegenständen zu, schneiden einzelne Wörter aus und verbinden sie mit Artikeln.

 

Drei Kinder auf dem Boden
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Die Schülerinnen und Schüler lösen Aufgaben und Aufträge mit grossem Elan.

Struktur und Konstanz im Unterricht sind zentral, denn die Fluktuation in der Gruppe ist hoch. Kinder ziehen in andere Stadtteile, werden mit ihren Familien einem anderen Durchgangsheim zugewiesen oder verlassen die Schweiz ganz. So ist etwa im vergangenen Mai eine grosse Gruppe von Kindern mit Roma-Hintergrund über Nacht ohne Vorankündigung weitergezogen. «Wir müssen flexibel sein», führt Co-Schulleiter Benjamin Rohner aus: «Wir versuchen, alle Kinder, die neu ankommen, innerhalb von einer Woche in die Klasse aufzunehmen. Nach Möglichkeit auch schneller. Es macht nichts, wenn da noch nicht jedes Böxli angeschrieben ist.» Ziel sei es, den Kindern einen Rahmen und Sicherheit für das Lernen und Ankommen zu geben. Diejenigen, die mit ihren Familien dauerhaft im Quartier wohnen, sollen möglichst bald in eine Regelklasse integriert werden, wo sie noch stärker mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen.

Damit dieser Übertritt gut gelingt und die Kinder sich langsam eingewöhnen können, finden ein Teil des Unterrichts wie etwa Bildnerisches Gestalten oder Turnen und ein Teil der Pausen in den Räumlichkeiten der Primarschule Erlenmatt statt. Lernstände und Entwicklungsstadien werden in Lerndokumentationen festgehalten, Noten gibt es keine.

 

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Gegenstände aus dem Schulalltag Kärtchen zuordnen.

Einen sehr hohen Stellenwert hat die Arbeit mit den Eltern. «Im Endeffekt muss ich immer bei den Eltern ansetzen, damit es den Kindern besser geht. Schwierig wird es, wenn ich weiss, dass die Eltern eines Kindes in einer desolaten Situation sind, geschwächt durch ihre eigenen problematischen Lebensgeschichten. Wenn ich da keinen Zugang bekomme, komme ich auch an meine Grenzen», beschreibt Frauke Schmidt die Situation. Da viele Familien in den provisorischen Containern neben dem Schulgebäude wohnen, sind die Lehrpersonen sehr nah am Leben ihrer Schülerinnen und Schüler dran. «Wir bekommen Streitigkeiten zwischen den Eltern mit, wenn ein Vater etwa in der Mittagspause die Kinder zusammenbrüllt, müssen wir reagieren.» Elterngespräche werden oft von Dolmetscherinnen und Dolmetschern sowie der Sozialarbeiterin Vinothini Velupillai begleitet. «Es sind keine einfachen Gespräche, aber man kann viel bewirken», resümiert Frauke Schmidt. Hilfreich seien auch die Verbindungen zu ausserschulischen Fach- und Beratungsstellen, welche das Team und die Schulleitung innerhalb dieses ersten Jahres aufgebaut haben: «Manchmal löst sich durch die Vermittlung an eine Beratungsstelle ein Problem in Luft auf und die Familien beginnen zu blühen.»

Text: Charlotte Staehelin, Bilder: Grischa Schwank

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