«‹Integration vor Separation› ist für mich unabdingbar»
Basler Schulblatt: Der Kanton Basel-Stadt hat die schulische Integration konsequent und in einem hohen Tempo vorangetrieben. Nach zwölf Jahren gilt es, bisherige Erfahrungen weiterzuentwickeln. Wo besteht aus Ihrer Sicht Handlungsbedarf? Anders gefragt: Wo drückt der Schuh?
Urs Bucher: Der Grundsatz «Integration vor Separation» wurde und wird sowohl von der Volksschulleitung als auch von den Lehr-, Fach- und Leitungspersonen mit Überzeugung getragen und mit viel innerem Feuer umgesetzt. Seit der Einführung der integrativen Schule im Jahr 2011 hat sich die Gesellschaft jedoch verändert, und mit ihr auch viele Schülerinnen und Schüler.
Was hat sich verändert?
Ich nenne ein Beispiel: Aus der JAMES-Studie 2022 der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW geht hervor, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder ab der fünften Klasse der Primarschule ein eigenes Handy besitzt. Das beeinflusst den Umgang der Buben und Mädchen untereinander. Cybermobbing etwa steht in direktem Zusammenhang damit. Aber auch Verhaltensauffälligkeiten haben deutlich zugenommen, und das wiederum prägt das Klassengefüge. Bevor eine Lehrperson mit ihrem Kerngeschäft des Unterrichtens beginnen kann, muss sie häufig zuerst eine Arbeitsatmosphäre schaffen, die die Schülerinnen und Schüler aufnahme- und arbeitsfähig macht.
Was heisst das für die integrative Schule?
Die integrative Schule ist in Basel-Stadt an Grenzen gestossen. Bei vielen Lehr- und Fachpersonen ist in den letzten Jahren die Belastung diesbezüglich gestiegen. Verschiedene Schulen beobachten einen zunehmenden Leidensdruck. Deshalb wurde die Forderung laut, Massnahmen zu ergreifen, beispielsweise in Form von Förderklassen. Parallel dazu haben wir uns auch in der Volksschulleitung überlegt, wie wir das Gesamtsystem Schule optimieren können, damit es tragfähiger wird und die Kernaufgabe Unterricht wieder besser gewährleistet werden kann. Das Massnahmenpaket geben wir noch vor den Sommerferien in eine breite Konsultation.
Welche Anliegen und Sorgen tragen die Lehr-, Fach- und Leitungspersonen an Sie heran?
In erster Linie ertönt da der Ruf nach mehr Ressourcen. Die Ressourcen würden aufgrund von immer mehr Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr ausreichen, um der ganzen Klasse gerecht zu werden. So gibt es zum Beispiel Situationen, in denen ein Kind so sehr austickt, dass niemand mehr an es herankommt.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten, Autismus-Spektrum-Störungen oder Lernschwächen zugenommen. Sie haben das bereits angetönt. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Forscherinnen und Forscher beobachten in neuesten Studien unter anderem Veränderungen im Gehirn der jungen Menschen, die Verhaltensauffälligkeiten nach sich ziehen können. Diese führen sie ursächlich auch auf den übermässigen digitalen Medienkonsum zurück. Sehr eindrücklich dokumentierte das Raphaël Hitiers Arte-Film «Smarte Kids». Kinder gehen heute dank und wegen der neuen Medien in der Erkundung der Welt anders vor als früher.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Beim Aufschlagen eines Lexikons nehme ich unbewusst oder auch aus Neugier nicht nur den gesuchten Begriff mit, sondern auch noch zwei, drei andere Einträge wahr; ich gehe also analog und «ausschweifend» erkunden. Die Suche via Google ist da sehr fokussiert, gibt mir ausser Werbung jedoch nichts anderes mit als die Informationen zum gesuchten Begriff. In der digitalen Welt bin ich sequentiell unterwegs, das Aussenrum fällt weg, das ausschweifende Erkunden findet in der Regel nicht statt. Möglicherweise hat auch der medizinische Fortschritt eine Auswirkung. Wir wissen etwa noch nicht, ob und welche Spätfolgen ein wochenlanger Aufenthalt im Brutkasten auf die Entwicklung sogenannter «Frühchen» hat.
Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen?
Ich weiss nicht, ob sie sich überhaupt stoppen lässt. Zurzeit geht die Entwicklung in eine ungute Richtung, und das beunruhigt mich. Seit diesem Schuljahr beobachten wir zudem bei immer mehr Kindern Sprachentwicklungsstörungen. Auch da bin ich in tiefer Sorge. Wie können wir dieser Situation als Gesellschaft entgegenwirken? Die ersten fünf Lebensjahre sind entscheidend für die Entwicklung eines Kindes, in dieser Zeit kann der Kanton aber nur einen sehr bescheidenen Einfluss nehmen. Das Zentrum für Frühförderung leistet hier hervorragende Arbeit. Dessen Angebote sind jedoch – bis auf die jetzt erfreulicherweise noch weiter ausgebaute frühe Deutschförderung – freiwillig. Wir können Eltern nicht dazu zwingen, sie zu nutzen, auch wenn das im Interesse des Kindes läge.
«Integration vor Separation»: Wie lange lässt sich dieses Prinzip erfolgreich leben angesichts der zunehmenden Zahl von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten, Autismus-Spektrum-Störungen oder Lernschwächen?
Dieses Prinzip lässt sich immer leben! Für mich ist «Integration vor Separation» unabdingbar. An diesem Grundsatz wollen übrigens auch die Initiantinnen und Initianten der Förderklassen-Initiative nicht rütteln. Wir dürfen «Integration vor Separation» jedoch nicht als «Integration statt Separation» verstehen. Integration gilt dort, wo sie möglich ist, und Separation gilt dort, wo die Bedingungen für ein Gelingen einer Integration nicht gegeben sind. Anders ausgedrückt: Integration ja, aber nicht um jeden Preis und stets mit Blick auf die ganze Klasse.
Zurzeit besuchen rund drei Prozent der Schülerinnen und Schüler separative Angebote. Mit der Förderklassen-Initiative und den von den Volksschulen entwickelten Massnahmen zur Entlastung der integrativen Schule könnte sich diese Zahl deutlich erhöhen. Liesse sich da überhaupt noch von integrativer Schule sprechen?
Ja! Wir wissen, dass es bei der Nutzung separativer oder teilseparativer Angebote zu einer Zunahme kommen wird, kennen die künftige Entwicklung der Zahlen aber nicht und stützen uns auf Schätzungen. Basel-Stadt gehört heute bei der Umsetzung der integrativen Schule schweizweit zu den Spitzenreitern. Vielleicht schlägt das Pendel in den kommenden Jahren wieder etwas in die andere Richtung. Ich glaube aber nicht, dass wir uns an das andere Ende des Spektrums bewegen werden. Dazu ist unsere Mentalität zu stark in Gedanken der Integration verhaftet.
Was können Lehr- und Fachpersonen im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern heute tun, um der hohen Belastung entgegenzuwirken?
Den Lehr- und Fachpersonen stehen Unterstützungsangebote zur Verfügung, jene der Kriseninterventionsstelle KIS zum Beispiel oder Beratungen durch die Fachstelle Förderung und Integration FFI. Sie nutzen diese auch. Und die Lehrerinnen und Lehrer können in pädagogischen Teams gemeinsam nach Lösungen suchen – am besten frühzeitig. Ich wünschte mir zudem, dass sie nicht verzweifeln, wenn eine Situation eskaliert. Sondern dass sie es aushalten, nicht immer allen zu hundert Prozent gerecht werden zu können. Perfektion hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Es kann und muss aber nicht immer alles perfekt sein. Es braucht in diesem Sinne auch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit schwierigen Situationen.
Wie auch immer mögliche Massnahmen aussehen werden: Sie benötigen mit grosser Wahrscheinlichkeit mehr Platz. Schulraum ist jedoch vielerorts knapp. Wie lösen Sie das?
Es wird tatsächlich nicht einfach sein, den nötigen Raum zu schaffen, da haben wir noch nicht für alle Standorte passende Lösungen. Neben der Suche nach zusätzlichem Raum wird auch die Improvisationsfähigkeit der Schulen weiter gefragt sein. Es gibt ja viele Beispiele für sinnvolle Raum-Umnutzungen, etwa von bisherigen Computer-Zimmern.
Auch Fachpersonen wie Logopädinnen oder Heilpädagogen sind gesucht. Was heisst das für die integrative Schule von morgen?
Auch das ist eine grosse Herausforderung. Basel-Stadt ist jedoch ein attraktiver Arbeitgeber. Und die Pädagogischen Hochschulen werben mit ihrer Aus- und Weiterbildungsoffensive für die Lehrgänge in schulischer Heilpädagogik, Logopädie und Psychomotorik. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch künftig genügend gut ausgebildete Fachpersonen für unsere Schulen gewinnen können.
Die basel-städtische Volksschule im Jahr 2036: Wie soll die integrative Schule 25 Jahre nach deren Einführung aussehen und gelebt werden?
Ich bin überzeugt, dass die Integration von Kindern der Normalfall bleibt. Die heutige Volksschule in Basel-Stadt ist eine integrative Schule. Weiterhin soll die ganze Klasse und nicht nur das von einer Einschränkung betroffene Individuum von einem qualitativ hochstehenden Unterricht profitieren. Die Lehr- und Fachpersonen sollen ihre Aufgabe mit Herzblut wahrnehmen können, zufrieden sein in ihrem Beruf und sich als selbstwirksam erleben. Dazu benötigen sie entsprechende Rahmenbedingungen. Die Ressourcen werden im Schulbereich schnell zu einem Thema. Wichtig ist mir da vor allem die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel: Diese müssen in erster Linie der Förderung der Kinder und Jugendlichen dienen.
Interview: Valérie Rhein, Bild: Grischa Schwank