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Ganz unterschiedlich ist völlig normal

10.06.2021
Die Primarstufe Schoren ist eine Erfahrungsschule. Seit Sommer 2017 wird dort in altersdurchmischten Gruppen unterrichtet. Wie sind die ersten Erfahrungen? Eine kürzlich abgeschlossene Evaluation bestätigt der Schule gute bis sehr gute Ergebnisse. Damit darf sie den eingeschlagenen Weg weitergehen.
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Mathe-Stunde in der Klasse 1–3c : Lukas Kritzinger und Serena Rinaldi unterrichten altersdurchmischt.

Eine Mathe-Stunde in der Primarschule Schoren. Heutiges Thema: Multiplikation. Die Klasse hat sich vor der Wandtafel gruppiert, wo die beiden Klassenlehrpersonen Serena Rinaldi und Lukas Kritzinger  ins Thema einführen. So weit, so normal. Bei genauem Hinschauen aber wundert man sich: Das kleine Mädchen kann doch höchstens in der 1. Klasse sein, während zwei, drei andere Kinder grössenmässig klar herausragen und bestimmt viel älter sind. Der Rest lässt sich nicht so klar zuordnen. Und genau da knüpft das Konzept Altersdurchmischtes Lernen(AdL) an. Dass sich nämlich Schüler und Schülerinnen meistens nicht so klar zuordnen lassen. Auch in normalen Regelklassen sind die Ältesten manchmal fast zwei Jahre älter als die Jüngsten. Und der individuelle Leistungsstand ist, unabhängig vom Lebensalter, sowieso völlig unterschiedlich.

Flexible Räume von Vorteil
Die Klasse 1­-3c besteht aus Schülerinnen und Schülern der 1. bis 3. Primarklasse. Genau wie ihre Partnerklasse 1–3d, die gleich nebenan ihr Zimmer hat. Die beiden Klassen teilen sich einen Gruppenraum und den riesigen Gang, wo ebenfalls an Tischen, am Boden, auf Fenstersimsen oder in Nischen gearbeitet werden kann. Das neue, grosszügige Schulhaus ist geradezu prädestiniert für flexiblen und bewegten Unterricht. Im alten Schoren-Schulhaus ein paar Hausnummern weiter, einem gemütlich wirkenden Holzpavillon, sieht es ein wenig anders aus: Da fehlen aktuell Gruppenräume, die direkt vom Klassenzimmer aus zugänglich sind, was die Flexibilität teilweise erschwert.
Vor vier Jahren hat die Primarschule Schoren als Erfahrungsschule im Rahmen eines Schulentwicklungsprojekts das Altersdurchmischte Lernen eingeführt. Die 1. bis 3. Klassen und die 4. bis 6. Klassen werden in allen Fächern (ausser Französisch und Englisch) durchmischt unterrichtet. Und zwar jeweils von einem Klassenlehrpersonenteam, das mit einem möglichst ähnlich hohen Pensum arbeitet, damit die Teamarbeit gefördert wird und der vergleichsweise grössere Aufwand gut verteilt werden kann.

Vor- und rückgreifendes Lernen
Rechnen mit Erst- bis Drittklässlern? Geht das? Die sind doch unterschiedlich weit! Ja, sind sie. Auch in «normalen» 3. Klassen sind die Kinder unterschiedlich weit: Die einen straucheln noch immer mit dem kleinen Einmaleins, andere könnten locker schon mit Viertklässlern mithalten. Zurück zur Klasse 1–3c: Lukas Kritzinger und Serena Rinaldi diskutieren mit den Kindern: Was kann man multiplizieren? Die Beine aller Tische im Zimmer, die Finger von zwei Händen respektive die Finger aller Kinder der Klasse. Zeichnungen an der Tafel veranschaulichen das Prinzip, manche erkennen die Rechnung, einige das Resultat. Bei der Partnerarbeit «Steckbrief Familie» gilt es herauszufinden, welche Merkmale man multiplizieren kann. Grössere erklären den Jüngsten, dass zwei und nochmal zwei und nochmal zwei Hände (von Mama, Papa und Kind) die Rechnung 3x2 ergibt. Die müssten das zwar noch nicht wissen, aber es wird ihnen helfen, wenn das irgendwann mal wieder kommt - die Pädagogik spricht hier von vor- und rückgreifendem Lernen.

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In gemischten Gruppen profitieren alle.

Leistungsstufen statt Klassenstufen
Anschliessend steht Planarbeit auf dem Programm. Alle Schülerinnen und Schüler arbeiten individuell an ihren Aufgaben, wobei sie die Schwierigkeitsstufe (nicht die Klassenstufe) selber wählen. So fällt nicht auf, wenn ein Drittklässler auf Stufe 2 arbeitet, um den Lernstoff zu festigen. Anderseits kann eine vife Erstklässlerin sich der nächsten Stufe widmen, wenn sie so weit ist. Die Lehrpersonen begleiten die Kinder, ermutigen zur nächsten Stufe oder raten zu wiederholtem Üben.
Es gibt aber schon Sequenzen, in denen eine Klassenstufe separat an einem Thema arbeitet. Während der Rest der Klasse Planarbeit verrichtet, versammelt Serena Rinaldi die Zweitklässler  im Gruppenraum und führt spielerisch in die 5er-Reihe ein. Die Unterschiede innerhalb der Gruppe sind frappant. Die einen checken’s mit Leichtigkeit oder konnten das schon vorher, in anderen Gesichtern zeigt sich Verständnislosigkeit – oder auch völliges Desinteresse. Das ist nichts Neues unter der Sonne und zeigt: Individualisieren muss eine Lehrperson sowieso, auch wenn sie nur auf einer Klassenstufe unterrichtet.

Viele Vorteile …
Die Bildungsforschung weiss: Am besten lernt man, wenn man anderen etwas erklärt. Denn so organisiert das Gehirn die Infos automatisch logisch. Oder man erkennt, was man selber noch nicht ganz verstanden hat. Dieses Prinzip macht sich AdL zunutze. Gleichzeitig wird damit erreicht, dass leistungsstarke Kinder genug gefordert werden, indem sie die Rolle der Lehrperson übernehmen. Aber auch Leistungsschwache können gelegentlich die Rolle der Erklärenden erleben, was ihr Selbstbewusstsein stärkt. Serena Rinaldi sieht im Altersdurchmischten Lernen im Wesentlichen folgende Vorteile:

  • Die Kleinen profitieren von den Grossen.
  • Die Grossen helfen den Kleinen und lernen Rücksicht zu nehmen.
  • Es besteht kein offensichtlicher Konkurrenzkampf.
  • Es steht jederzeit das gesamte Repertoire / der ganze Lernstoff aller drei Jahrgangsstufen zur Verfügung.
  • Der Schritt von der einen Stufe in die nächste erfolgt fliessend; es gibt keine «gaps».
  • Die Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler findet quasi automatisch statt.
  • Die Gemeinschaft unter den Schülerinnen und Schülern wird gestärkt.
  • Die Schule als Ganzes versteht sich als Gemeinschaft.
  • In der Klassenstunde erleben schon die Jüngsten von Anfang an Mitsprache.
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Gemischtes Doppel, begleitet von der Lehrerin Serena Rinaldi.

Positive Haltung nötig
Gibt es auch Nachteile? Schulleiterin Astride Wüthrich erwähnt die hohe Belastung der Lehrpersonen, die vor allem am Anfang, beim Start als Erfahrungsschule, an der oberen Grenze war. Vieles habe sich mittlerweile eingespielt, aber noch immer sei der administrative Aufwand hoch, weil das ganze System (Infomentor, Checks, obligatorische Angebote wie die Ausstellung «Mein Körper gehört mir») auf Jahrgangsklassen ausgerichtet sei und der Schule schon manches graue Haar beschert habe. Klar ist auch: «Die Lehrpersonen müssen hinter AdL stehen, sonst funktioniert es nicht. Die Zusammenarbeit innerhalb der Kernteams und Stufenteams ist eng und mit Mehrarbeit verbunden. Das thematisieren wir aber schon bei der Personalauswahl!» Es habe auch schon Lehrpersonen gegeben – durchaus gute, wie Wüthrich betont – die den Standort gewechselt hätten, weil dieses Modell für sie einfach nicht passte. Andere wollten genau deswegen ins Schoren kommen.
Hoch erfreut ist die Schulleitung über das positive Resultat der umfassenden Evaluation. Besonders auffallend war die überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit der Eltern. Das mag damit zusammenhängen, dass Erfahrungsschulen sich erklären und die Eltern besonders sorgfältig mit ins Boot holen müssen. Das scheint sich auszuzahlen. Eine weitere Auffälligkeit der Evaluation: Die Lehr- und Fachpersonen am Standort Schoren sind gegenüber Reformen überdurchschnittlich positiv eingestellt. Trotz des Aufwands, den es für die vielen Absprachen, gemeinsame Vorbereitung und Förderplanung braucht, ist die Arbeitszufriedenheit hoch.

Yvonne Reck Schöni (Text und Fotos)

Erfahrungsschule: Worum geht es?

Was sind Erfahrungsschulen?
Erfahrungsschulen sind einzelne Schulen, die systematisch neue Konzepte erproben, die vom geltenden gesetzlichen oder behördlich vorgegebenen Rahmen abweichen. Sie erproben Neuerungen, die – sollten sie sich bewähren – auch auf weitere Standorte ausgedehnt werden könnten. Erfahrungsschulen geben Erkenntnisse für das Gesamtsystem und sind als solche im Schulgesetz verankert (§ 69 SG¹). Die beiden Primarstandorte Schoren und Rittergasse sowie der Sekundarstandort Sandgruben sind Erfahrungsschulen. An diesen Schulen wird Altersdurchmischtes Lernen (AdL) praktiziert, an der Sek Sandgruben wird zusätzlich noch niveau-durchmischt unterrichtet. Die Erfahrungen dieser Schulen wurden durch eine umfassende Evaluation überprüft (siehe weiter unten).

Was bedeutet Altersdurchmischtes Lernen (AdL)?
Beim Altersdurchmischten Lernen (AdL) gehen nicht Kinder eines bestimmten Schülerjahrgangs zusammen in eine Klasse, sondern Schülerinnen und Schüler verschiedener Klassenstufen bilden gemeinsam eine Klasse. So kann eine Klasse zum Beispiel aus Kindern der 1. bis 3. Klasse bestehen, eine andere aus Schülerinnen und Schülern der 4. bis 6. Klasse.
Mehrjahrgangsklassen sind im Grunde nichts Neues. In kleinen Dorfschulen zum Beispiel werden seit jeher Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen gemeinsam unterrichtet. Dies aus organisatorischen Gründen, weil die Anzahl Kinder für Jahrgangsklassen zu klein ist. Wenn in Mehrjahrgangsklassen aber jedes Kind für sich am Stoff seiner Stufe arbeitet, ist das nicht AdL. In den letzten Jahren werden altersdurchmischte Klassen zunehmend auch in städtischen Gebieten gebildet, dies aber aus pädagogischen Überlegungen und mit entsprechend angepasstem Unterricht.

Welche Vorteile bringt AdL?
AdL hat zum Ziel, die Kinder möglichst individuell entsprechend ihrer Entwicklungsstufe, ihres Leistungsniveaus und ihres Lernstands zu fördern. Dies kann deutlich vom Stand der Altersgenossen abweichen. In AdL-Klassen helfen die Älteren oft den Jüngeren respektive die Leistungsstarken den Schwächeren. Anderseits kommen auch leistungsschwächere Kinder irgendwann in die Lage, jüngeren helfen zu können und für einmal mehr zu wissen, was ihr Selbstwertgefühl stärkt. Grosse Heterogenität gibt es auch in normalen Klassen und ist für die Leistungsschwachen oft beschämend. In AdL-Klassen mit mehreren Klassenstufen sind unterschiedliche Lernstände «logisch» und akzeptiert. Dort ist es normal, verschieden zu sein.

Wie werden die Erfahrungen evaluiert?
Die Bezeichnung Erfahrungsschule für die genannten drei Standorte ist bis zum Schuljahr 2022/23 befristet. Erfahrungsschulen müssen gemäss Schulgesetz evaluiert werden. Um gezielt zu fundierten Ergebnissen zu kommen, hat die Volksschulleitung intern und extern (PH FHNW) eine umfassende Evaluation in Auftrag gegeben. Auf Grundlage dieser Evaluation kann der politische Prozess in Gang gesetzt werden. Heisst: Je nach Ergebnis kann das pädagogische Konzept der Erfahrungsschulen auch an anderen Standorten als mögliche Variante umgesetzt werden. Die Abschlussevaluation ist jetzt abgeschlossen. Alle drei Standorte haben gute bis sehr gute Evaluationsergebnisse erreicht.

Welche Erfahrungen machen andere Länder?
Vergleiche mit anderen Ländern und Bildungssystemen sind schwierig. Internationale Metastudien zu AdL besagen, dass sich Altersdurchmischtes Lernen besonders im sozialen Lernen positiv auswirkt. Es zeigen sich Vorteile in den Bereichen Motivation, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz  oder Einstellung gegenüber der Schule und dem Lernen. Dies entspricht auch den Erfahrungen der drei Basler Schulen. Auf den eigentlichen Lernerfolg, den kognitiven Bereich, wurden kaum Auswirkungen festgestellt. Interessant: In verschiedenen Studien wurden signifikant weniger Mobbingfälle beobachtet.

Wie geht es weiter?
Die guten bis sehr guten Evaluationsergebnisse unterstützen das Vorhaben des Erziehungsdepartements, Altersdurchmischtes Lernen für alle Schulen zu ermöglichen. Voraussetzung für AdL in allen Schulen ist eine Schulgesetzänderung, über die der Grosse Rat abschliessend entscheiden wird. Das Erziehungsdepartement wird nun mit den Arbeiten zur Anpassung des Schulgesetzes beginnen.

Yvonne Reck Schöni

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