Geschichte erlebbar machen
Am Ende wurde ihm das behördlich sogenannte «Hausieren mit Bleistiften» zum Verhängnis: «Armin Weiss (*1895), jüdischer Flüchtling, abgeschoben nach Deutschland, ermordet im KZ Sachsenhausen» – so erinnert heute ein Stolperstein mitten in der Basler Innerstadt an ihn. Zuvor war Armin Weiss 1938 ohne gültige Ausweispapiere in den Langen Erlen von der Schweizer Grenzwache aufgegriffen worden. In der Folge wurde ihm Erwerbstätigkeit verboten. Mittellos geworden, versuchte er, sich mit Verkäufen von Haus zu Haus über Wasser zu halten. In Liestal wurde er erwischt, worauf die Fremdenpolizei die Rückstellung nach Deutschland beantragte. Für Weiss bedeutete das die Fahrt in den Tod: Er ist 1940 im KZ Sachsenhausen umgekommen. Zehntausende Häftlinge wurden dort systematisch ermordet, vernichtet durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche, Misshandlungen.
Erste Stolpersteine in Basel-Stadt
Wie Armin Weiss wurden viele Menschen in dieser Zeit aus Basel nach Deutschland in den Tod geschickt. Solche Schicksale arbeiten die beiden Gymnasiallehrerinnen Sylvia Zihlmann (Geschichte) und Magdalena Zinsstag (Deutsch) vom Gymnasium am Münsterplatz regelmässig mit ihren Klassen auf. In einem interdisziplinären Projekt im Unterricht beschäftigten sie sich mit dem Thema. Vor zwei Jahren begleiteten sie mit ihren Schülerinnen und Schülern die Legung der ersten Stolpersteine im Kanton mit Gedenkanlässen. Dazu gehörte auch der Stolperstein an der Schnabelgasse beim Rümelinsplatz, der an Armin Weiss erinnert. Organisiert wurde die Steinlegung vom Verein Stolpersteine Schweiz.
«Im Holocaust wurden sechs Millionen Juden ermordet. Diese Zahl allein ist kaum zu fassen», sagt Zihlmann. «Richtig fassbar wird der Völkermord aber über die Schicksale von einzelnen wie jenem von Armin Weiss.» Die beiden haben ein fertiges Unterrichtskonzept für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit ausgearbeitet und auf der Plattform IQES publiziert. Zur Vorbereitung der Stolpersteinlegung arbeiteten sie mit ihrer Klasse auch an den Themen «Reden schreiben» und «Präsentation vor Publikum». Dabei zeigte sich der interdisziplinäre Charakter des Projekts: In den Porträts einzelner Verfolgter wurde der historische Kontext erkennbar.
Die Schülerinnen und Schüler sind auch emotional dabei
Die Stolpersteine eignen sich besonders für die Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus, sind die beiden Gymnasiallehrerinnen überzeugt. «Mit dieser Herangehensweise wollen wir Hemmungen gegenüber dem Thema abbauen», sagt Zihlmann. «Viele befürchten, dass das Thema zu komplex ist oder zu schwierig zu vermitteln.» Gerade auch jüngere Schülerinnen und Schüler könnten über Stolpersteine an das Thema herangeführt werden, sagt Magdalena Zinsstag: «Stolpern ist eine körperliche Erfahrung und macht Geschichte direkt erlebbar. Darüber und über die Geschichten von einzelnen Schicksalen kann man gut auch mit jüngeren Schülerinnen und Schülern sprechen.» Bei einem Rundgang zu einzelnen Stolpersteinen seien die Jugendlichen direkt involviert. «Da sind die Schülerinnen und Schüler emotional dabei, gehen raus», erklärt Zihlmann. «So findet Lernen auch statt – nicht unbedingt nur bei der Lektüre von Texten.»
Der Bedarf an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, mit Antisemitismus und Diskriminierung im Allgemeinen zeigt sich seit dem Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel besonders. Auch an den Basler Schulen stellen Lehr- und Fachpersonen antisemitische Äusserungen fest. In ihren Klassen erleben Zihlmann und Zinsstag teilweise heftige Diskussionen. «Das ist anspruchsvoll», sagt Zinsstag. «Es ist ein extrem emotionales Thema für viele. Die Schule muss der Ort sein, wo eine ausgewogene Auseinandersetzung mit diesem Thema stattfindet.»
Zihlmann ergänzt: Die Schule habe auch die Aufgabe, Jugendliche zu befähigen, zwischen der Realität und Fake News sowie Propaganda zu unterscheiden. «Die Schule muss gemäss Bildungsauftrag ein Gegengewicht bieten zu Filterblasen. Auch das kann für Lehrpersonen eine Motivation sein, sich dieses Themas anzunehmen.» Denn auch bei vielen jüngeren Schülerinnen und Schülern kursierten teilweise verzerrte Vorstellungen.
Jährlicher Holocaust-Gedenktag am 27. Januar
Das Gymnasium am Münsterplatz, wo Zihlmann und Zinsstag unterrichten, begeht jährlich am 27. Januar den Holocaust-Gedenktag. Dafür konnten sie in der Vergangenheit den mittlerweile verstorbenen Basler Schauspieler Buddy Elias gewinnen, Cousin von Anne Frank. Zihlmann zieht einen Brief aus der Tasche, den ihr Elias vor knapp 20 Jahren bereits mitgegeben hat: «Es ist ein Brief an die Schülerinnen und Schüler, den ich ihnen jedes Jahr vorlesen soll», sagt Zihlmann. «Buddy Elias schreibt darin über den Holocaust. Und richtet sich direkt an die Schülerinnen und Schüler: ‹Es liegt an euch Jungen, dass so etwas nie mehr geschehen darf.› Darauf müssen wir uns alle verständigen in unserer Gesellschaft.»
www.stolpersteine.ch/materialien
Text: Gaudenz Wacker