«Grenzen sind abhängig vom Kontext»
Basler Schulblatt: Eine Schülerin oder ein Schüler stört wiederholt den Unterricht. Ermahnungen bringen nichts. Als disziplinarische Massnahme soll das Kind den Raum verlassen. Es hört nicht hin, widersetzt sich der mündlichen Aufforderung. Die Lehrperson packt es am Arm und versucht, es hinauszuführen. Der junge Mensch wehrt sich, die Stimmung ist aufgeheizt…
Urs Bucher: Ja, das ist sehr aufreibend. Man kann sich gut vorstellen, was da für eine Dynamik entsteht. Ein Wort ergibt das andere, verbal kommt man nicht weiter. Als Vater oder als Mutter hat man diese Szene eventuell auch schon erlebt oder beobachtet. Wenn die Nerven durchgehen, wird das Kind gezerrt. Im schulischen Kontext geht das jedoch nicht. Das ist physische Gewalt, ein Eingriff in die physische Integrität. Das ist eine rote Linie, die nicht verhandelt werden kann. Physische oder verbale Gewalt gegen Schülerinnen und Schüler als Erziehungs- oder Disziplinarmassnahme werden nicht toleriert.
Was verstehen Sie unter verbaler Gewalt?
Kraftausdrücke oder verbale Beleidigungen. Auch wenn eine Lehrperson die Stimme erhebt und die Kinder anschreit, ist das kein professionelles Verhalten. Sie kann jedoch verbal Druck aufsetzen – das ist natürlich bei kleinen Kindern einfacher als bei renitenten Teenagern ...
Was, wenn Ermahnungen oder Anweisungen nicht eingehalten werden?
Als Lehrperson hat man kein Interesse, sich vor versammelter Klasse auf einen Machtkampf einzulassen. Bei Machtspielen im Klassenzimmer können wir nur verlieren, das Kräfteverhältnis ist wie bei David gegen Goliath, und damit ist klar, wo die Sympathien liegen: sicher nicht bei der Lehrperson. Also umgehen wir den Machtkampf. Am besten lassen wir die Situation stehen und fordern die Schülerin oder den Schüler zum Gespräch nach der Stunde auf.
Angenommen die Störung geht weiter…
Wenn eine Schülerin oder ein Schüler keine Einsicht zeigt, tobt oder sich stur stellt, soll man sich als Lehrperson während der Stunde oder danach bei Fachpersonen, die im Schulhaus sind, Kolleginnen oder Kollegen oder der Schulleitung Unterstützung holen. Man braucht dabei kein schlechtes Gefühl zu haben, denn wir alle kommen ab und an in Situationen, in denen wir überfordert sind und an unsere persönlichen Grenzen stossen. Das ist menschlich. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man darüber spricht und sich vernetzt.
Wäre es da nicht das Beste, den Schülerinnen und Schülern von Vornherein wenig bis gar keine Grenzen zu setzen, damit es nicht zu solchen Zuspitzungen kommt?
Oh nein! Es ist ein weiter Weg zwischen dem Ziehen von Grenzen und physischer Gewalt. Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, Grenzen zu setzen und Grenzverletzungen zu ahnden. Das ist ihr Erziehungsauftrag. In meinen Augen gibt es keine Bildung, die nicht mit Erziehung einhergeht. Ausserdem heissen wir ja immer noch «Erziehungsdepartement». Erziehung und Bildung greifen an unseren Volksschulen ineinander.
Wie zieht man denn sinnvoll Grenzen?
Das Wichtigste ist meiner Ansicht nach, dass man so früh wie möglich zu seinen Schülerinnen und Schülern eine tragfähige Beziehung aufbaut. Das ist die Basis für guten Unterricht. Beziehungen aufzubauen und zu halten, ist ein ständiges Ringen. Aber es lohnt sich, wenn die jungen Menschen einen als natürliche Autorität wahrnehmen und Grenzen akzeptieren. Dabei ist es hilfreich, wenn man resonant ist gegenüber den Kindern, ihnen zu verstehen gibt, dass sie wichtig sind, auch wenn sie einmal austicken. Ein befreundeter Psychologe hat einmal den Ausdruck «liebevolle Pflöcke» benutzt. Gute Lehrpersonen sind quasi wie Pflöcke, die Grenzen setzen, damit eine Schülerin oder ein Schüler aus einer Situation etwas lernen kann.
Gibt es auch andere Hilfestellungen, gesetzliche Vorgaben?
Die Rechte und Pflichten der Schülerinnen und Schüler sind in der Schülerinnen- und Schülerverordnung geregelt. Kommt es zu Pflichtverletzungen, kommt die Absenzen- und Disziplinarverordnung zum Zug, da gibt es einen Katalog von disziplinarischen Massnahmen. Aber in meinen Augen kann das Gesetz nicht alles regeln.
Wie meinen Sie das?
Aus Gründen der Praktikabilität nimmt das Gesetz Typisierungen und Kategorisierungen vor. Die pädagogische Arbeit jedoch besteht aus vielen Schattierungen und Grautönen. Man muss situativ reagieren können. Es geht darum, immer neu einzuschätzen, was es braucht, damit eine Schülerin oder ein Schüler gut arbeiten kann und in der Klasse integriert ist. Dabei muss nicht immer alles genau gleich ablaufen. Massnahmen dürfen variieren. Es darf situative Grenzverschiebungen geben, Ausnahmen. Kommt ein Kind aus einer akuten Stresssituation, muss man das auffangen können und anders umgehen dürfen, etwa weniger strikt als mit einem Kind, das ganz entspannt ist.
Die Massnahmen hängen also von der jeweiligen Situation ab?
Es gibt einen Rahmen und es gibt die besagten roten Linien, aber Grenzen sind abhängig vom Kontext. Um zu unserem Beispiel zurückzukommen: Aus rein disziplinarischen Gründen darf eine Lehrperson einen Schüler oder eine Schülerin nicht am Arm packen und aus dem Zimmer führen. Geht es im Schulunterricht jedoch um eine Selbst- oder Fremdgefährdung eines Kindes, verletzt es sich in der Wut also selber, oder geht es auf andere los, dann hat die Lehrperson sogar die Pflicht, körperlich einzugreifen, um den Schüler oder die Schülerin, die Klasse und sich selber zu schützen. Und da muss man sich je nach Situation einem Kind in den Weg stellen oder es festhalten. In diesem Fall ist der Eingriff in die persönliche Integrität durch die Aufsichtspflicht gerechtfertigt.
Interview: Charlotte Staehelin, Foto: Grischa Schwank
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