Sie sind hier: Startseite / Publikationen / Basler Schulblatt / Artikel / Spielerisches Heranführen an die eigene Handschrift

Artikelaktionen

Spielerisches Heranführen an die eigene Handschrift

13.01.2023
Die Entwicklung einer leserlichen Handschrift spielt für den Schulerfolg eine wichtige Rolle. Bei Kindern mit Schwierigkeiten beim Handschriftenerwerb ist es darum entscheidend, dass sie schon früh Unterstützung bekommen. Wie das am effektivsten geschieht, wird aktuell im Rahmen des Nationalfonds-Projekts «Grafset» auch an Basler Schulen erforscht.
Bild Legende:
Spielerisches Herantasten an die Schrift: Aus der Kombination von Diagonalen entstehen wie von selbst Buchstaben. Fotos Peter Wittwer

Grafomotorische Defizite sind am Start einer Schulkarriere oft der Auslöser, weshalb eine Lehrperson ein Kind bei der Fachperson Psychomotorik im Schulhaus anmeldet. Da dürfe man nicht zu lange zuwarten, Gegensteuer zu geben, sagt Catherine Gerber, die als Fachperson Psychomotorik an der Primarstufe Gellert arbeitet, denn: «Wenn ein Kind deswegen erst in der 5. Klasse zu mir kommt, lassen sich grundlegende Fehlhaltungen der Hand sowie die fehlende Schreibfreude nach meinen Erfahrungen in den allermeisten Fällen nicht mehr korrigieren.»

Welches Setting bringt am meisten?

Um dem Kind zu helfen, ist es aber nicht nur entscheidend, dass diese Probleme möglichst früh erkannt werden. Grossen Einfluss hat auch, in welchem Setting diese angegangen werden. Bisher war es häufig so, dass Kinder mit grafomotorischen Schwierigkeiten die Psychomotorik-Therapie ausserhalb des Klassenzimmers besuchen. Dort kann oft im freien Spiel den Problemen auf dem Grund gegangen werden. Viele Schreibarbeiten und das Erlernen der einzelnen Buchstaben finden jedoch im Klassenunterricht statt.

Ob sich eine Aufhebung dieser Trennung zwischen individueller Förderung Einzelner und dem Schreibunterricht für alle positiv auswirkt, untersucht gegenwärtig ein Forschungsteam der PH Bern im Rahmen des Forschungsprojektes «Grafset» (siehe Kasten). Catherine Gerber ist eine von vier Basler Psychomotorik-Therapeutinnen, die sich an diesem Projekt beteiligt. Mit je einer ersten Klasse der PS Gellert hat sie Anfang dieses Jahres die Wirksamkeit eines herkömmlichen Therapiesettings und eines inklusiven Settings getestet. Auf Basis je einer Messung am Anfang und nach Abschluss der 16-wöchigen Interventionsphase sowie ein halbes Jahr nach dem Abschluss werden die Unterschiede in der Entwicklung miteinander verglichen.

Bild Legende:
Catherine Gerber zeigt den Kindern, wie sie einen Stift zum Schreiben halten sollten

Einführung ins Schreiben im Team-Teaching

Schon bevor die Auswertung dieser schweizweit in 87 Klassen erhobenen Daten vorliegt, ist für Catherine Gerber klar: Für den Handschriftenerwerb und das damit verbundene Einüben exekutiver Funktionen bringt eine enge Zusammenarbeit zwischen der Lehrperson und der Fachperson Psychomotorik allen Kindern etwas. An der PS Gellert werden deshalb künftig alle 1. Klassen beim Handschriftenerwerb in den Genuss des inklusiven Modells kommen. Dazu wurden aus einem Förderpool 40 zusätzliche Psychomotorik-Stunden zur Verfügung gestellt. Im Team-Teaching können so nicht nur einzelne Kinder, sondern die ganzen Klassen behutsam an eine eigene Handschrift herangeführt werden.

Diese inklusiven Grafomotorik-Lektionen basieren auf den Unterrichtsmaterialien, die von der PH Bern unter dem Titel «Grafink» erarbeitet worden sind. Eingebunden in eine altersgerechte Geschichte, in der die Klasse ein Kind namens Maxi auf der Suche nach einem roten Bleistift begleitet, entdecken Kinder mit und ohne Schwierigkeiten beim Schreiben gemeinsam die Welt der Buchstaben.

Mit Maxi die Diagonale entdecken

Beim Besuch einer der acht Lektionen, in denen die Fachperson Psychomotorik die Klassenlehrpersonen der PS Gellert unterstützt, war nicht zu übersehen, wie gut diese spielerische Heranführung ans Schreiben funktioniert. Nachdem die Kinder in den ersten beiden Lektionen über Körperbewegungen die Dimensionen des Horizontalen und Vertikalen kennengelernt und sinnlich erfahren hatten, ging es in der dritten Lektion darum, ein Gefühl für die Diagonale zu entwickeln. Zuerst wurde ihnen dazu ein neues Kapitel aus der Abenteuergeschichte von Maxi vorgelesen. Aus dieser wurden dann Bewegungsspiele abgeleitet, in denen die Kinder zuerst mit ihrem Körper und dann mit dem Stift in der Hand diagonale Muster entwickeln mussten.

Ohne dass dies vorgegeben war, kommen in diesem Spiel schnell einmal die ersten Buchstaben ins Spiel, die einige Kinder schon kennen und benennen können. Aus den Diagonalen, die mit farbigen Stäbchen auf den Boden ausgelegt wurden, ergibt sich rasch einmal ein grosses W oder ein M. Und beim gruppenweisen Zeichnen auf dem Bauch erkennen die Kinder spielerisch, dass sich bei den Kritzeleien wie von selbst einzelne Buchstaben ergeben. Das grösste Kompliment an diese spielerische Art des Heranführens an die Handschrift kam beim Besuch des Schulblattes ganz am Schluss: «Was, die Stunde ist schon fertig?» sagte mehr als ein Kind zu Catherine Gerber mit staunenden Augen. «Und wann kommen Sie wieder, um die Geschichte von Maxi weiter zu erzählen und mit uns zu malen?»  Peter Wittwer

Was wird im Projekt Grafset untersucht?

Bild Legende:
Indem sie sich beim Zeichnen blind führen lassen, bekommen die Kinder ein Gefühl für die Diagonale.

wit. Im Nationalfonds-Projekt «grafset» (kurz für «Settings der Förderung der Grafomotorik») wird die Wirksamkeit unterschiedlicher Fördersettings beim Handschriftenerwerb untersucht. Unter Leitung eines Forschungsteams der PH Bern haben im Schuljahr 2021/22 in der Schweiz 87 erste Klassen die drei folgenden Settings der Zusammenarbeit zwischen den Fachpersonen Psychomotorik und den Klassenlehrpersonen erprobt.

  • In einem Therapiesetting besuchen Kinder mit grafomotorischen Schwierigkeiten die Psychomotoriktherapie, während die Lehrperson den Handschriftunterricht für alle gestaltet.
  • Im Integrativen Setting arbeitet die Fachperson Psychomotorik mit einer Gruppe von Kindern mit und ohne Indikation für Psychomotoriktherapie an der Grafomotorik, während die Lehrperson für den Handschriftunterricht der restlichen Kinder der Klasse verantwortlich ist.
  • Im Inklusiven Setting gestalten Lehr- und Fachperson den Handschriftunterricht für alle Kinder gemeinsam. Sie arbeiten auf der Basis des von der Projektleitung erarbeiteten Konzepts «GRAFINK».

Gegenwärtig läuft nach je einer Messung unmittelbar vor und nach der Intervention eine dritte Messung. Die drei Messungen werden es ermöglichen, die erzielten Effekte zu analysieren und die Entwicklung der Kinder in den unterschiedlichen Settings zu vergleichen. Der Schlussbericht soll Anfang 2024 veröffentlicht werden

Weil noch wenig zum Zusammenhang der Handschriftenwicklung und den sogenannten exekutiven Funktionen bekannt ist, widmet sich die schweizweite Grafset-Studie auch diesen Zusammenhängen. Dabei wird auch analysiert, welche Beziehungen zwischen den grafomotorischen Fähigkeiten und den exekutiven Funktionen bestehen. Exekutive Funktionen ist ein Sammelbegriff aus der Hirnforschung und bezeichnet jene geistigen Funktionen, mit denen Menschen ihr eigenes Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen ihrer Umwelt steuern. Sie dienen dazu, das eigene Handeln möglichst gut einer Situation anzupassen und sind eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Ausser Catherine Gerber von der PS Gellert haben sich in Basel-Stadt auf Anregung von Sihna Lind (Fachbeauftragte Psychomotorik & Heilpädagogik in der Fachstelle Förderung und Integration) auch die Primarschulen Margarethen (Sibylle Wiesli) sowie die beiden Riehener Standorte Hinter Gärten (Simone Kirtzek) und Burgstrasse (Anna-Birgit Keller) an der Grafset-Studie beteiligt. Die Psychomotorik-Therapie ist seit zehn Jahren Teil der Volksschule im Kanton Basel-Stadt. Sie bietet Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Auffälligkeiten im Bereich der Bewegung, Wahrnehmung und des Verhaltens. Neben der Einzel- und Kleingruppenarbeit bietet die Psychomotorik auch integrative und präventive Interventionen an.

Mehr zum Forschungsprojekt und den Unterrichtsmaterialien unter www.grafset.ch

Mehr zur Psychomotorik an den Volksschulen Basel-Stadt unter  https://www.edubs.ch/dienste/Dienste-VS/ffi/psychomotorik

abgelegt unter: